Wenn die EU-Maschinerie Nachrichten gebärt, so geschieht dies meist nach langen Wehen und ohne jede Überraschung. Der Ultraschall hat ja längst gezeigt, was da im Werden ist. Trotzdem ist dann die Aufregung groß: Es ist ein Rechtstaatlichkeitsmechanismus!
Dieses neue Instrument der Brüsseler Bürokratie wurde am Mittwoch erstmals von der EU-Kommission aktiviert, gegen Ungarn. Der zuständige Kommissar, Johannes Hahn, schrieb einen Brief an die ungarische Regierung, in dem er eine Reihe von Fällen auflistete, die der Kommission korruptionsverdächtig erscheinen. Es ist der erste Schritt einer Prozedur, die am Ende dazu führen kann, dass die EU finanzielle Sanktionen gegen Ungarn beschließt.
Freilich wird heißer gekocht als gegessen. Das gilt auch hier. Der neue Mechanismus wird irgendwann, in Jahren, vielleicht zu begrenzten Sanktionen führen – wie es sowieso auch bisher, ganz ohne den „Mechanismus” schon immer der Fall war. Die Antikorruptionsbehörde OLAF untersucht regelmäßig, ob EU-Gelder sachgerecht verwendet werden, und empfiehlt gegebenenfalls die Rückzahlung bereits gewährter EU-Zuschüsse. Das passiert jedes Jahr. Der neue Mechanismus führt nur eine weitere Ebene der finanziellen Kontrolle ein.
„EU-Gelder für Orbáns Autokraten-Kurs” hat es nie gegeben, die EU unterstützt keine Autokraten und gerade erst fanden freie Wahlen in Ungarn statt, die Orbán gewann. Selbst die geschlagene Opposition erkannte öffentlich an, dass das nichts mit „Autokratie” zu tun hatte, sondern dass sie selbst versagt hatten.
Genausowenig hat der neue Mechanismus zum Ziel, demokratische Strukturen zu stärken, oder einer imaginären „Autokratie” den Geldhahn abzudrehen. Das sagt schon die Amtsbezeichnung des zuständigen Kommissars: Johannes Hahn kümmert sich um „Haushalt und Verwaltung”, nicht etwa „Werte und Transparenz” (das macht Vera Jourova).
Der „Mechanismus” ermöglicht Mittelkürzungen, wenn hinreichend präzise und quantifizierbar nachgewiesen werden kann, dass Unzulänglichkeiten im Justizsystem eines Landes zur regelwidrigen Verwendung von EU-Geldern führen. Das ist mühsam. Es geht theoretisch also nicht darum, dem Land sämtliche EU-Gelder zu streichen, sondern nur solche, und gegebenenfalls nur zum Teil, bei deren Verwendung nachgewiesen kann, dass Schwachstellen im Justizsystem Korruption ermöglichte, erleichterte oder gar förderte.
Auf ungarischer Seite zeichnet sich ab, dass man dem Vorwurf unzulänglicher Korruptionsbekämpfung durch die Einrichtung einer neuen Behörde zur Bekämpfung von Korruption begegnen will. Ob das reicht, bleibt abzuwarten. Der EU wäre es natürlich am liebsten, wenn Ungarn der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft beitritt. Das ist freilich ausgeschlossen, da man in Budapest der EU genauso wenig traut wie die EU Budapest. Die Sorge in Ungarn ist, dass die EU-Staatsanwaltschaft irgendwann auch als Instrument politischer Druckausübung missbraucht werden könnte.
Anders als OLAF, eine unpolitische Ermittlungsbehörde, führt der Rechtstaatlichkeitsmechanismus eine politische und daher auch politisierbare Dimension ein. Mittel können gesperrt werden, wenn sich, nach einer langwierigen Prozedur, im Rat der Staats- und Regierungschefs eine qualifizierte Mehrheit dafür findet – 55 Prozent der Mitgliedsländer mit 65 Prozent der Bevölkerung der EU.
Werden sie das? Bundeskanzler Olaf Scholz ist Pragmatiker und hat dazu bislang nichts gesagt. Die deutsche Industrie hat erhebliche Interessen in Ungarn. Viele deutsche Unternehmen geniessen dort grosse Steuervorteile und direkte Subventionen des ungarischen Staates (gekoppelt mit der Bedingung, möglichst keine Arbeitskräfte zu entlassen).
Denkbar, dass in bilateralen Gesprächen die ungarische Seite bedauernd anmerken wird, dass diese Leistungen für deutsche Unternehmen nicht zuletzt dank der EU-Gelder finanzierbar sind, und nicht aufrecht erhalten werden können, wenn diese fehlen. Österreichische Unternehmen haben ihrer Botschaft/Regierung bereits solche Befürchtungen mitgeteilt.
Olaf Scholz’ Regierungskoalition ist aber deutlich ideologischer gepolt als der Kanzler, und dürfte Sanktionen unterstützen. Zudem ist Deutschland das Land in der EU, in dem die Regierung sich am ehesten dem Druck der Medien beugt, wenn diese ein Thema intensiv aufgreifen - was zum Thema Rechtstaatlichkeit und Ungarn durchaus zu erwarten ist.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versteht sich gut mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und ist ebenfalls kein Ideologe. Er hat in dieser Frage bislang eher vorsichtig formuliert, was eine enge Auslegung des Rechtstaatlichkeitsmechanismus durch Frankreich nahelegt (also höchstens begrenzte Sanktionen).
Bei einer Abstimmung im Rat der Staats- und Regierungschefs konnte sich Ungarn bisher auf die Unterstützung der sogenannten Visegrád-Gruppe und derer mitteleuropäischen Verbündeten verlassen. Also Polen, Tschechien und die Slowakei, sowie unter anderen Slowenien. Neue, liberalere Regierungen in Tschechien, Slowenien und der Slowakei und eine tiefe Spaltung der V4 in der Frage der Haltung gegenüber Russland lassen dies momentan jedoch als eher unwahrscheinlich erscheinen. Ungarn steht in dieser Frage gegenwärtig mehr oder minder allein.
Bemerkenswerterweise hat die EU-Kommission den Rechtstaatlichkeitsmechanismus bislang nicht gegen Polen aktiviert. Immerhin wird dem Land vorgeworfen, die Unabhänigkeit der Justiz völlig ausgehebelt zu haben, zudem hat das polnische Verfassungsgericht die Gültigkeit mancher Teile des Lissabonner Vertrags in Bezug auf Polen in Zweifel gezogen.
Denkbar, dass die EU Polen für seine scharfe Haltung gegenüber Russland im Konflikt mit der Ukraine belohnen will und Rechtstaatlichkeitsvorwürfe gegenüber Warschau vorerst nicht weiter betont. Das hätte den politischen „Vorteil”, die Spannungen zwischen Polen und Ungarn zu vertiefen.
Ungarn versucht hingegen seinen bisherigen Verbündeten klarzumachen dass sie die nächsten „Opfer” werden könnten, dass es daher wichtig ist, gegenüber der EU in dieser Frage eine gemeinsame Haltung zu bewahren.