In Menschenjahren gerechnet, kommt die EU allmählich ins Greisenalter. Ihr Vorläufer, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, entstand 1957 mit dem Vertrag von Rom. Zuvor hatte die Kohle- und Stahlunion 1951 erste Grundlagen für eine supranationale Europäische Integration gelegt.

Europa als transnationales politisches Gebilde hat also gut sieben Jahrzehnte auf dem Rücken. Kein Wunder dass man in der EU derzeit, in sich geht um zu fragen: Was haben wir geschafft, könnte es auch anders gehen? „Konferenz zur Zukunft Europas” heisst diese einjährige Veranstaltungsreihe, in der auch die Bürger zu Wort kommen sollen.Gegründet wurde das europäische Projekt, um ein konkretes Problem zu lösen, und später wurde es erweitert, um andere Probleme zu lösen. Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, ist diese: Wenn wir ganz von vorn anfangen müssten, um die Probleme von heute zu lösen, wie würden wir es machen?

Die Grundidee kam aus Frankreich

Sie lautete: Wie kann man verhindern, dass die Deutschen mit ihrer Vorliebe für Weltkriege früher oder später wieder alles an sich reissen?

Wer Kriege führen will, braucht Kohle und Stahl. Kohle und Stahl transnational zu regulieren, das war eine Garantie gegen nationales Kräftemessen in der Rüstungsindustrie. Dies war der Ausgangspunkt für die vom damaligen französischen Außenminister Robert Schuhmann angestossene Kohle- und Stahlunion ab 1951. Nach drei Angriffskriegen der stets übermächtigen Deutschen gegen Frankreich sollte dies weitere Kriege verhindern.

Ein Europa, in dem alle Länder mit einander frei Handel treiben, ist ein Europa ohne Krieg, lautete dann, etwas weiter gefasst, der Grundgedanke für die Gründung der EWG mit dem Vertrag von Rom 1957.

Der Vertrag von Maastricht (1993) schuf die EU, die wir heute kennen. Wieder ging es darum, das deutsche Problem zu lösen, wieder kam die Idee aus Frankreich. In Paris hatte man Angst vor einem wieder vereinten Deutschland. Die Schaffung einer gemeinsamen Währung – der Euro – sollte die Deutschen noch stärker in den europäischen Rahmen einbinden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kämen.

Heute leben wir in einer anderen Welt. Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, überhaupt Krieg zwischen EU-Mitgliedern, ist undenkbar geworden. Es ist vielleicht mit ein Verdienst der EU, wahrscheinlicher aber ein Ergebnis der relativen militärischen Schwäche der europäischen Länder im Atomzeitalter. Man beginnt keine Kämpfe, wenn man sowieso nicht gewinnen kann. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, erkennt man an den aufpeitschenden Parolen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der neuerdings fordert, Europa müsse Großmacht werden, um nicht unterzugehen. Eine stärker zusammengeschweißte EU: So lautet auch die Devise in Brüssel. Wie? Vertiefte Integration, Mehrheitsentscheidungen statt Vetorecht, eine gemeinsame Armee, verschärfte Rechtsstaatlichkeitsanforderungen um Mitgliedsländer zu disziplinieren, die aus der Reihe tanzen.

Kurzum, noch mehr Macht und Kompetenzen sollen von den Nationalstaaten zur transnationalen Ebene wandern. Nur so – lautet das Argument - könne die EU trotz ihres immer geringeren Anteils an der globalen Wirtschaft und Bevölkerung ihren Einfluss wahren in einer multipolaren Welt, in der China, Russland und die USA jeweils ihre eigenen Ziele verfolgen. Es ist zwar Usus in Brüssel, christlich und konservativ gesinnte Kräfte „populistisch” zu nennen, die Europa in Gefahr wähnen. Aber auf der allerhöchsten europäischen Ebene passiert genau dies: Ein hysterisches Wehklagen über den drohenden Untergang Europas, wenn man sich nicht zusammenraufe.   

Großmacht zu werden ist indes das genaue Gegenteil dessen, wofür die EU gegründet wurde. Sie war von Anfang an ein Projekt wider jedes Großmacht-Denken. Robert Schumans Traum war „Weltfrieden”, nicht „eine starke europäische Armee”. Die Sehnsucht nach einer machtvollen EU im Konzert der Großmächte kommt nicht von den Bürgern Portugals. Oder Bulgariens. Oder Maltas. Oder aus Ungarn. Es ist ein eine Sehnsucht der historischen kontinentalen Großmächte. Der Subtext der Frage „wie kann Europa Bestand haben” lautet: „Wie können wir (Frankreich, Deutschland) es schaffen, weiterhin Großmacht zu bleiben?”

Die Antwort lautet: Gar nicht. Die Zeiten sind vorbei. Und es ist nicht schlimm. Jedenfalls nicht aus ungarischer, bulgarischer oder slowakischer Sicht. Großmachtstreben und die Rivalitäten zwischen Großmächten haben für die kleineren Länder Europas immer nur eines bedeutet: Dass Elefanten auf ihnen herumtrampeln.

Insofern Europa noch gestaltend ins Weltgeschehen eingreift, sind es die Nationalstaaten. Den Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU 2016 handelten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die türkische Regierung aus. Das Minsker Abkommen zur Beilegung des Ukraine-Konflikts 2015 war auf der europäischen Seite ein Werk Frankreichs und Deutschlands.

Die Wahrheit ist: Jene, die ein integrierteres Europa wollen, um Bestand zu haben gegenüber China, Russland und den USA, sind die historischen Großmächte Frankreich und Deutschland. Sie sind bestrebt, die EU als Verstärker zu nutzen, um ihren eigenen Einfluss in der Welt zu wahren.

Die neue Aufgabe der EU?

Das also wäre die neue Aufgabe der EU, für die sie sich erneut reformieren soll: Nicht mehr die Deutschen einhegen, sondern der Stimme eines von Deutschland und Frankreich dominierten Europas mehr Gewicht geben.

Dafür müssen sie die Kleineren Mitgliedsstaaten irgendwie überreden, oder zwingen. Denen ist es nämlich egal, wie stark oder schwach die EU ist im Vergleich zu anderen Großmächten. Eine EU als Freihandelsverein, um Wohlstand zu mehren, reicht ihnen völlig. Militärisch vertrauen sie für ihren Schutz der Nato.

Wesentliches Element der deutsch-französischen Zukunftspläne sind Mehrheitsabstimmungen zu außenpolitischen Fragen. Damit kann beispielsweise Ungarn dann nicht mehr verhindern, dass die EU eine „gemeinsame” Position entwickelt zu China.

Realistisch sind solche EU-Großmachtpläne nicht. Mehrheitsabstimmungen hin oder her, die gemeinsame EU-Politik besteht im Wesentlichen aus Sprechblasen. Niemand glaubt, dass die Bundeswehr oder Spanien oder eine EU-Armee Lettland retten wird, wenn es von Russland angegriffen wird. Nicht die EU, sondern die USA, Russland und die Türkei sind es, die im Nahen Osten Fakten schaffen – weil sie dort Truppen einsetzen können, um ihre Interessen durchzusetzen.

Militärisch wird auch eine integriertere EU nie gleichrangig sein mit den großen Atommächten. Der Wille zur globalen Großmacht existiert nur in den Köpfen von Strategen in Paris und Berlin. Anderswo in Europa interessiert es nicht. Wirtschaftlich ist die EU zwar ein Riese, und hat damit auch politisch Gewicht. Aber um ein wirtschaftlicher Riese zu bleiben, braucht sie nicht noch mehr Integration. Es hat auch ohne das bisher sehr gut geklappt.

Die europäische Großmacht-Sehnsucht ist nicht nur aussichtslos, sondern schädlich. Sie hat dazu beitragen, die Beziehungen zu den USA zu belasten. Speziell die Einführung des Euro als potentielle Weltwährung, und neue Regeln und hohe Strafen um die Marktmacht amerikanischer Großkonzerne zu brechen, werden in Washington als Herausforderung empfunden. Dort sieht man Europa nicht mehr nur als Partner, sondern als potentiellen Rivalen. Nicht nur Donald Trump: Unter seinem Nachfolger im Weißen Haus, Joe Biden, ändert sich an dieser Analyse nicht viel.  Dementsprechend ist der Ton in den USA gegenüber der EU in den letzten Jahren härter geworden.

Ein konfrontativeres Vorgehen der EU gegen Russland und China ist zwar im Sinne der traditionellen europäischen Großmächte, die ihren eigenen Einfluss wahren wollen, aber nicht im Sinne der kleineren Mitgliedsländer, die es sich lieber mit niemandem verderben wollen.

Geht es auch eine Nummer kleiner?

Wie könnte man die EU reformieren, wenn man sich vom illusorischen Traum einer Großmacht-Rolle in der Welt verabschieden würde? In einer Welt, in der kein europäischer Krieg mehr droht, EU-Mitglieder sowieso keine Gefahr mehr darstellen für einander, und in der die EU als eigenständiger Akteur auf der Weltbühne kaum noch eine gestaltende Rolle spielen kann? Am besten durch eine Rückbesinnung auf das, was sie am besten kann: wirtschaftliche Kooperation.

Einen eigenen „Außenminister”, den „Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik”, hat die EU seit 2009. (Vorgänger-Versionen dieser Funktion existierten seit 1999) Über dieses Amt kann man vieles erzählen, aber wenig über seine bisherigen Leistungen. Natürlich wäre es unrealistisch, zu erwarten, dass dieses Amt wieder abgeschafft werden könnte. Genau so unrealistisch wie zu erwarten, dass der jeweilige „EU-Außenminister” tatsächlich Impulse geben könnte für eine europäische Außenpolitik, oder sie gar prägen könnte. Den Ton geben nach wie vor Frankreich und Deutschland an. Was bedeutet, dass es eine europäische Außenpolitik nicht gibt – und so bald auch nicht geben wird. Sollte es eines Tages keinen Hohen Vertreter für Außenpolitik mehr geben, wird man dessen Verschwinden in der Praxis kaum spüren.

Belanglose, aber moralisch erhaben klingende gemeinsame außenpolitische Deklarationen der EU zu allen möglichen Themen, ohne jede Wirkung und Bedeutung, könnte man sich ebenso sparen.

All das kostet Zeit und Geld, verlangt nach Konferenzen und bürokratischen Apparaten, aber liefert keine Ergebnisse. Noch nicht einmal auf den EU-Beitrittskandidaten Türkei vermag die EU-Außenpolitik nennenswert einzuwirken, oder sich dort auch nur Respekt zu verschaffen. Es ist wie mit dem Vatikan und dessen Einfluss, zu dem Stalin einst gefragt haben soll: „Wie viele Divisionen hat der Papst?”

Das EU-Parlament als demokratische Legitimation für eine Union bereits hinreichend demokratisch legitimierter Nationalstaaten mit eigenen Parlamenten ist auch so ein Konstrukt, über dessen Kosten-Nutzen-Relation man streiten kann. Lange hatte es keine wirklichen Machtbefugnisse. Es war ein demokratisches Feigenblatt in einem Institutionengefüge, dessen „Regierung” (die Komission) ja auch keine echte Regierung war. Wozu also ein echtes Parlament?

Seit dem Vertrag von Lissabon (2007) hat sich das geändert. Das Parlament hat mehr Macht, kann beispielsweise Gesetzestexte blockieren und Kandidaten vor der Ernennung zum EU-Kommissar ablehnen. Das hat die Bildung jeder neuen EU-Kommission sowie die Ausarbeitung von EU-Gesetzestexten verlangsamt und verkompliziert.

Das EU-Parlament ergeht sich gerne in politischem Aktivismus, um zu zeigen, wie wichtig es ist. So erklärte es die EU zum „Freiheitsraum für LGBTIQ-Personen“, und initiierte ein Disziplinarverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn. Nach mehr als zwei Jahren ergebnislosen Geredes ist ein Ende der Prozedur nicht in Sicht. Das Endergebnis ist bislang viel Sand im Getriebe der EU.

Das EU-Parlament kostet rund zwei Milliarden Euro jährlich an Steuergeldern, laut „Economist” mehr als die Parlamente Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens zusammen. Es tagt sowohl in Brüssel als auch in Strasbourg – warum, kann außer den Franzosen niemand erklären (es tagt in Strasbourg, weil Frankreich es so wollte, um sich selbst politisch aufzuwerten).

Alles, was dazu beitragen kann, die Kosten des Europäischen Parlaments zu halbieren und dessen messbare Leistung zu verdoppeln, wäre willkommen. Würde man beispielsweise Englisch zur einzigen Amtssprache erklären und Strasbourg als Sitzungsort streichen, so könnte man damit mehr als 560 Millionen Euro einsparen (460 Mio nur für Übersetzungen im Jahr 2016). Es würde auch das Klima weniger belasten.

Kohäsionsgelder sind das Mittel, das die EU anwendet, um sich für ihre Mitglieder interessant zu machen. Sie befeuern Gier und Korruption und missratene Entwicklungsprojekte. Ich habe an anderer stelle darüber geschrieben, warum man damit ganz aufhören sollte.Das Ziel dieser Gelder, Europas ärmere Länder zu den reicheren aufschließen zu lassen, kann nicht gelingen, solange diese Gelder zurückfliessen an westeuropäische Großkonzerne, die viele Infrastrukturausschreibungen gewinnen weil sie mehr Geld und Erfahrung haben. Wenn eine Regierung – wie in Ungarn – Kohäsionsgelder vorzugsweise einheimischen Bewerbern zukommen lässt, damit das Geld im Land bleibt, ist es rasch „Korruption”. Hören wir einfach auf damit.

Damit entfällt dann auch die Forderung, die „rechtsstaatliche” Verwendung dieser Gelder politisch kontrollieren zu wollen, und somit viel Streit.

Auch die konfliktfördernde  Forderung nach eigenen EU-Steuern würde entfallen, also nach Finanzierungsquellen für die EU jenseits dessen, was die Staaten einzahlen. Wer weniger Geld braucht, muss nicht nach neuen Einnahmequellen suchen.

Die Probleme, für deren Lösung die EU gegründet wurde, sind gelöst. Das neue Problem – Europas Status als Macht in der Welt – ist nicht lösbar. Wir sollten neu darüber nachdenken, was heute wirklich nötig ist. Überlassen wir es den Nationalstaaten, nach dem demokratisch ausgedrückten Willen ihrer Bürger ihre Angelegenheiten zu regeln. Die EU als gemeinsamer Binnenmarkt europäischer Demokratien ist eine schöne Sache. Es wäre schade, sich diesen Erfolg zu verderben durch immer mehr Streit um Dinge wie Genderpolitik, Einwanderung und unsere Haltung zu Israel und Palästina.

Magyarul

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