Am 1. Januar übernahm Frankreich die turnusmäßige EU-Präsidentschaft. Zeitgleich hat Deutschland eine neue, noch unerfahrene Regierung. Viel ist darüber gesagt worden, dass es nun zu einem Tauziehen zwischen Frankreichs gerissenem, umtriebigem Staatschef Emmanuel Macron und einem trägen, unentschlossenen Deutschland unter Bundeskanzler Olaf Scholz kommt.
Die damalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer empfahl als Reformvorschlag zur Zukunft der EU kühl, das Europa-Parlament möge nicht mehr im französischen Strasbourg tagen. Aber dennoch: Schon damals war eine inhaltliche Annäherung zu erkennen, als sie – genau wie Macron – eine stärkere militärische Präsenz der EU auch als Mittel der Außenpolitik befürwortete.
Nun regiert in Berlin eine Koalition aus Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten, und inhaltliche Konvergenzen mit Macron sind klar erkennbar. Das beginnt damit, dass Olaf Scholz in seiner Antrittsrede mehrfach Macrons Begriff von einem « souveränen » Europa verwendete. Das deutsche Regierungsprogramm sieht ausdrücklich den Aufbau eines europäischen Föderalstaates vor. Das klingt wie ein Echo auf Macrons Forderung, die EU müsse « neu gegründet » werden, um handlungsfähiger zu werden. Macron stiess im vergangenen Jahr die Idee zu einer « Konferenz zur Zukunft Europas » an, umd seine Vision von einer geeinten, schlagkräftigen EU voranzubringen. Im Regierungsprogram der neuen deutschen Regierung steht, man wolle diese Konferenz nutzen, um die EU zu einem föderalen Bundesstaat umzubauen.
Natürlich gibt es Differenzen. Macron möchte eine geeinte EU unter der intellektuellen Führung Frankreichs. Berlin möchte eine deutsch dominierte EU. Deren Föderalisierung nannte Scholz in seiner Regierungserklärung das wichtigste « nationale Interesse » Deutschlands. Es klingt merkwürdig, den eigenen Staat abschaffen zu wollen im Sinne eines nationalen Interesses. Aber der Satz des früheren US-Präsidenten Donald Trump, die EU sei « ein Vehikel für Deutschland », ist nachvollziehbar.
Es sind heute die beiden einzigen, die Europa politisch einen wollen. Gegen einander geht das nicht. Aber zusammen? Wenn wirklich ein europäischer Bundesstaat aufgebaut werden soll, dann müssen Deutsche und Franzosen mit einem neuen Akteur rechnen, gegen dessen Willen das nicht ohne weiteres gehen wird: Die Staaten Ostmitteleuropas, insbesondere Ungarn und Polen. Sollte es hier zu einer Machtprobe zwischen « West » und « Ost » kommen, würde das die Spannungen in der EU verschärfen.
Die EU wurde überhaupt nur gegründet, um weitere Kriege zwischen Frankreich und Deutschland um die Vorherrschaft in Europa zu beenden. Für die Generation meiner Großeltern war die Beziehung dieser beiden Länder zu einander eine « Erbfeindschaft » - ein Schlagwort, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert Historiker und Philosophen beschäftigte.
Heutige Jugendliche in Deutschland oder Frankreich können sich diese Gedankenwelt kaum noch vorstellen. Mehr als sechs Jahrzehnte Europäische Gemeinschaft (oder « Union »), umfangreiche Austauschprogramme, gezielter Schulunterricht und buchstäblich Milliarden Euro zur Finanzierung von politischer Bildung im Dienste der Völkerverständigung haben statt dessen eine kaum noch wegzudenkende « deutsch-französche Freundschaft » geschaffen. In der Europäischen Union, die nur deswegen existiert, weil diese beiden Länder Europa mehrfach an den Rand des Abgrunds brachten, gelten sie mittlerweile als « Motor der EU ».
Das bedeutet, dass ohne sie nicht viel läuft. Man kann es auch anders ausdrücken: Wenn Frankreich und Deutschland sich in einer Sache einigen, dann haben sie sehr gute Chancen, dies in der EU auch durchzusetzen. Deswegen sei es unklug, wenn Ungarn sich ihnen in den Weg stelle, zum Beispiel in der China-Politik, sagte mir ein Vertreter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. « Denn dann werden Deutschland und Frankreich etwas vereinbaren, und Ungarn wird am Wegesrand liegengelassen. »
Das ist so brutal wie tendenziell richtig. Statt gegeneinander um die Vorherrschaft in Europa zu ringen, versuchen Deutschland und Frankreich heute – trotz aller weiterhin bestehenden Differenzen – gemeinsam in Europa zu dominieren. Zwar will jeder ein bisschen mehr dominieren als der andere, aber beide wissen, dass sie dem Rest des Kontinents nur gemeinsam den Takt vorgeben können.
Natürlich gibt es auch Interessenkonflikte zwischen den beiden Ländern. Angela Merkels Deutschland stand für eine solide, konservative Wirtschaftspolitik, Frankreich sieht das seit jeher lockerer. Aber in dieser Schlüsselfrage haben sich Deutschland und Frankreich offenbar angenähert. Deutschlands Einwilligung in eine gemeinsame Verschuldung der EU, vorgeblich zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-Krise, war der erste Schritt in eine Transferunion, wie Frankreich sie immer gewünscht hat. Dass es beim « Next Generation Fund » nicht vorrangig um die Folgen der Pandemie geht, erkennt man schon daran, dass für Polen und Ungarn Gelder aus diesem Topf zurückgehalten werden aus Gründen « mangelnder Rechtstaatlichkeit ». So schlimm können die Folgen der Covid-Krise also wohl nicht sein, wenn man bereit ist, Mitgliedsländer und deren Bürger in einer angeblich so tragischen Situation auszuhungern.
Nein, es geht um den Aufbau von Machtstrukturen mittels Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot : Mehr Geld für alle, aus Brüssel. Also im Klartext mehr Geld für die EU selbst, die es dann umverteilt. Die Peitsche: Dieses Geld bekommt nur, wer nicht offen gegen die deutsch-französische Hegemonie und deren politische Zielsetzungen rebelliert. Zu denen gehört derzeit Gendergerechtigkeit, massive Einwanderung, Wettbewerbsregeln (Rechtstaatlichkeit) die vorteilhaft sind für deutsche und französische Großkonzerne, und außenpolitische Einstimmigkeit in der EU zur Stärkung deutsch-französischer Vorstellungen. Auch dann, wenn es den nationalen Interessen einzelner kleinerer Staaten in Ostmitteleuropa schadet.
In einer West-EU könnte das funktionieren, weil deren Gesellschaften einander kulturell und politisch ähnlicher sind. Die Menschen dort haben ein halbes Jahrhundert im Kalten Krieg gegen Russland, und unter dem Einfluss der Ideen der individualistischen 68er Bewegung, und der liberalen Tradition des westlichen Kapitalismus verbracht. Sie sind erzogen worden im Geist eines politischen und kulturellen Idealismus: Freiheit, Demokratie, Selbstverwirklichung, und die EU als Heilsbringer in einer bösen Welt.
Im Osten Europas weiss man hingegen aus übler Erfahrung, dass alles relativ ist, vor allem Freiheit, Demokratie und Selbstverwirklichung. Man weiss um die Realität von politischer Macht, man weiss dass es in der Politik nie um Werte geht, sondern immer um knallharte Interessen. Wer Ostmitteleuropäern etwas von hehren moralischen Werten erzählt, wird instinktiv mit intensivem Misstrauen betrachtet. Denn so machten es die Kommunisten auch. Man fragt sich also im Osten Europas, wenn Deutsche und Franzosen mal wieder Moral predigen: Was wollen die wirklich von uns?
Hinter den Kulissen erkennen Deutschland, Frankreich und die V4 den Sachzwang zur Kooperation, loten aber auch alle Möglichkeiten aus, einander zu spalten: Kann der Visegrád-Block zum Zerfall gebracht werden? Kann man Frankreich gegen Deutschland ausspielen oder umgekehrt?
Es gibt eine Frage, in der sich alle vielleicht einigen können: Macrons Vorschlag einer « strategischen Autonomie » der EU in der Außenpolitik. In Ungarn versteht man dass so, dass Macron – wie auch Orbán - eine Schwächung der USA voraussieht, und deren zunehmenden Rückzug aus ihrer Rolle als Weltpolizist. Der Rückzug aus Afghanistan ist ein Indiz dafür. « Autonomie » würde konkret bedeuten: Eine außenpolitische Auffächerung des Westens, eigene Großmachtambitionen der EU. Das kann auch eine vorsichtige europäische Kooperation mit Russland bedeuten, teilweise gegen den Willen und die Interessen der USA. Dafür hat man in Berlin wie in Paris ein vor allem wirtschaftlich begründetes Interesse, und in Ungarn auch.