Seit Jahren wogt der Streit um den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU. Zum einen wird gestritten um die Frage, was Rechtstaatlichkeit ist, ob und wie man sie messen kann. Zum anderen über den Charakter dieses Mechanismus. Offiziell ist es ein Kontrollmechanismus, um Missbrauch von EU-Geldern zu verhindern. 

In Ungarn und Polen, denen unter Bezug auf „mangelnde rechtsstaatliche Standards” derzeit  sämtliche EU-Gelder vorenthalten werden, sieht man den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus hingegen als politisches Druckmittel, um die Regierungen dieser Länder dazu zu bewegen, einer „tieferen Integration” der EU zuzustimmen –in Richtung eines europäischen Bundesstaates. 

Wer recht hat?

Die Frage ist längst beantwortet. Entgegen aller offiziellen Erklärungen ist es sehr wohl ein politisches, nicht nur finanzielles Instrument, um eine tiefere Integration der Union herbeizuführen. Darin sind sich die Befürworter einer solchen Integration mit deren Kritikern einig.

Ein Beispiel ist eine bereits im Mai 2022 veröffentlichte Analyse der deutschen „Stiftung für Wissenschaft und Politik” (SWP), ein Thinktank, der mit seinen Analysen auch auf die deutsche Europapolitik einwirkt. Die Stiftung selbst, und individuell ihre Forscher, befürworten eine tiefere Integration der EU und sind davon überzeugt, dass dies im besten Interesse aller erfolgt.

Unter dem Titel „Konditionalität als Instrument europäischer Governance – Typen, Ziele, Implementierung” fasst EU-Forscher Peter Becker auf 35 Seiten die Geschichte diverser EU-„Konditionalitäten”, ihre Funktionsweisen und Auswirkungen zusammen. 

In einem Unterkapitel geht es um „Die politische Dimension der Rechtstaatlichkeit”. Also jene Dimension, die es nach Angaben der EU-Kommission, aber auch des Europäischen Gerichtshofes in seinem Urteil vom 19. Februar 2022 zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gar nicht gibt. Da heisst es etwa in Punkt 119 der Urteilsbegründung: „…ist festzustellen, dass das Ziel (…) darin besteht, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinreichend unmittelbar aus in einem Mitgliedstaat begangenen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben, und nicht etwa darin, derartige Verstöße als solche zu ahnden.” 

Es geht also nicht darum, mangelnde Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren, sondern nur deren unmittelbare Auswirkungen auf EU-Gelder. Entsprechend dieser Logik würden die verhängten Strafen nicht erst dann aufgehoben, wenn das Land die Grundsätze der Rechtstaatlichkeit respektiert, sondern bereits dann, wenn die unmittelbaren Auswirkungen etwaiger Verstöße auf den EU-Haushalt beseitigt sind.

Es klingt ein wenig so, als liefe es aus dasselbe hinaus, aber normativ ist es nicht beliebig: Wenn die „Grundsätze der Rechtstaatlichkeit” an und für sich Gegenstand von Sanktionen wären, liefe das potentiell auf den politischen Umbau der Machtstrukturen im betroffenen Mitgliedsland hinaus. Wenn nur der „Schutz der EU-Gelder” vor „unmittelbarem” Missbrauch im Vordergrund steht, dann hätte das nicht unbedingt eine politische Dimension.

In der Praxis aber doch, und das ist wohl auch die Absicht. In dieser Frage schafft Beckers Analyse Klarheit. Er definiert die Rechtstaatlichkeitskonditionalität als „Hebelkonditionalität mit der die EU versucht, ihre politischen Ziele und Werte mit dem Hebel der europäischen Förder­politik durchzusetzen”.

Wörtlich: „Obwohl in der Konditionalitätsverordnung besonders betont wird, dass diese nur dem Schutz der finan­ziellen Interessen der Europäischen Union und ihres Haushalts diene, hat sie im Kern doch die politische Funktion, eine argumentative Brücke zwischen der Auszahlung europäischer Fördergelder und der Ver­pflichtung auf die gemeinsamen Grundwerte der EU, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, zu schlagen.”

Und weiter: „Mit der normativen Rechtsstaatskonditionalität werden also innenpolitische Grundsatz- und Struk­tur­entscheidungen (…) zu Bedingungen für die Aus­zahlung europäischer Fördergelder gemacht.”

Becker verweist auf kritische Stimmen: „Beobach­ter kritisieren allerdings, dass in der Konsequenz (…) die europäische Kompetenzordnung verändert werden könne”. Die Konditionalitätspolitik könne „eine ›federalizing‹ force ent­falten und ein Momentum erzeu­gen zur weiteren Konstitutionalisierung der EU.” Mit anderen Worten: Es wäre weiterer Schritt in Richtung eines europäischen Bundesstaates. 

Zur Verdeutlichung, und diesmal nicht als Verweis auf Kritik, zieht Becker Parallelen zu politischen Mechanismen in Föderalstaaten: Konditionalität sei ein „bekanntes Instrument in föderalen politischen Systemen – die zentrale politische Ebene verknüpft häufig ihre finan­zielle Unterstützung für einzelne Gliedstaaten mit gemeinschaftlichen Zielen oder eigenen politischen Interessen. Dies dient der Festigung und Weiter­entwicklung des föderativen Staatsverbands und liegt somit im kollektiven Interesse aller seiner Entitäten.” 

Bezüglicher der EU sieht Beckers Einschätzung so aus: „Die Hebelkonditionalität fungiert also als kontinuierliches Druckmittel zur Einflussnahme auf die Politik in den Mitgliedstaaten (…) Konditionalitätspolitik wird in der Europäischen Union zu einem Prozess der Politik­steuerung.” Die Folge sei eine schleichende Erweiterung der EU-Kompetenzen: „Die Europäische Kommission setzt diese Hebel­konditionalität inzwischen in Politikfeldern ein, in denen die Europäische Union nicht die alleinige und ausschließliche Rechtsetzungs- und Regulierungskompetenz besitzt. Im Gegenzug zur Gewährung finanzieller Hilfen erwartet die EU also die Umsetzung von Maßnahmen und Anpassungen auch in Politikbereichen, in denen sie nur über ergänzende oder subsidiäre Rechtssetzungszuständigkeiten und somit begrenzte rechtliche Sanktionsmöglichkeiten verfügt.” Damit könne die EU ihre Ziele gegenüber den Mitgliedsstaaten „besser durchsetzen”. 

Noch deutlicher: „Die Rolle der Europäischen Kommission als Exeku­tive der EU wird mit der Anwendung des Konditionalitätsprinzips deutlich gestärkt. Konditionalität verstärkt die Tendenz der schleichenden Kom­petenzausweitung auf zusätzliche Politikbereiche. Darüber hinaus kann die Kommission ihre diskretionären Handlungs- und politischen Interpreta­tionsspielräume insbesondere in den Feldern aus­dehnen, in denen sie Kompetenzen mit den Mitgliedstaaten teilt. Die Spielräume für nationale Sonderwege werden enger.”

Ist das rechtmäßig, wenn es dafür doch gar keine ausdrückliche Grundlage gibt im Vertrag von Lissabon? Nun ja. „Die Rechtsgrundlagen dieser Form der Konditio­nalität sind nicht immer eindeutig. So wird die Be­achtung der Rechtsstaatlichkeit bei der Auszahlung von EU-Fördergeldern in den europäischen Verträgen nicht weiter konkretisiert. Die Kommission beruft sich vielmehr auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, also auf europäisches Einzelfallrecht, und hat zur Anwendung der Rechtsstaats­konditionalität inzwischen eigene Leitlinien ent­wickelt”.

Die Kompetenzausweitung zugunsten der Kommission erfolgt also nicht auf dem Wege demokratisch legitimierter, politischer Entscheidungen der Mitgliedsländer, sondern auf dem Wege politisch folgenschwerer Gerichtsurteile. Darin erblickt Becker gewisse Risiken: Das könne „zu natio­nalen Abwehrreflexen führen. Bestehende politische Konflikte könnten sich eher verschärfen, wenn »Brüssel« eine punitive Konditionalität unsensibel aktivieren und kompromisslos durchsetzen würde. Eine solche »Rally around the flag«-Reaktion ver­schlechtert dann nicht nur die Chancen, dass die vereinbarten Anpassungen und Reformen tatsächlich implementiert werden; die zumeist innenpolitisch begründeten Mechanismen der Politisierung oder der populistischen Frontbildung können auch Ansätze einer grundsätzlichen Europaskepsis verschärfen oder gar in Richtung einer Europafeindlichkeit eskalieren lassen.”

Becker empfiehlt deswegen eine bessere „Verankerung in den europäischen Verträgen”, um „den Emp­fang jeglicher europäischer Fördergelder explizit an die Einhaltung europäischen Rechts und die Beach­tung europäischer Werte und Ziele” zu binden. Und ein vertrauensvolles Miteinander etwa unter „Einbindung der nationalen Parlamente” in die Schaffung neuer Konditionalitäten. 

Schönheitsfehler: Wo nationale Interessen innerhalb der EU kollidieren, sowie nationale Interessen mit den institutionellen Interessen der EU, da wird vertrauensvolles Miteinander schwer. Letztlich läuft es in solchen Fällen meist ganz altmodisch auf die Anwendung politischer Druckmittel hinaus, und der Stärkere setzt sich durch. 

Es sollte aber klar sein, dass der Streit um den Charakter des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, wie er in der Öffentlichkeit oft dargesellt wird, in Wirklichkeit gar nicht existiert. Kritiker wie Befürworter wissen, dass es sich um ein politisches Druckmittel handelt, nicht primär um den Schutz des EU-Haushalts, und dass dies ein weiterer Schritt in Richtung auf eine Föderalisierung der EU ist. Die Kritiker finden es fatal, Befürworter eher gut, aber in ihren Analysen über den Charakter der Sache sind sie sich einig. 

Die einzigen, die das so nicht aussprechen wollen, sind die EU-Institutionen selbst.