Lange galt unser Bundestagswahlrecht als vorbildlich. Als grundsätzliches Verhältniswahlrecht entsprach es dem Dogma, die Parlamentsfraktionen müssten die Stimmenanteile der Parteien abbilden. Obendrein war es „personalisiert“. Die Hälfte der Abgeordneten waren nämlich mit Mehrheit im Wahlkreis gewählte Parlamentarier, wobei sich die im Wahlkreis unterlegenen Abgeordneten größerer Parteien an der Basis wie „Direktabgeordnete“ verhielten. Das erzeugte jene Bürgernähe, ohne die Repräsentation nicht zur gelebten Beziehung zwischen dem Volk und seinen Vertretern wird.

Zweierlei störte dann die jahrzehntelang funktionierende Balance von Verhältnis- und Persönlichkeitswahl. Einerseits vergaben die Wähler ihre Stimmen nicht mehr vor allem an Union und SPD. Vielmehr sorgten sie dafür, dass mit den Grünen, der PDS und der AfD nun sechs Fraktionen im Bundestag sitzen. Durch diese Aufsplitterung wird es immer wahrscheinlicher, dass von nur regional starken Parteien mehr Wahlkreise gewonnen werden, als ihnen nach bundesweiter Zweitstimmenproportionalität zustünden.

Die Intention der Ampel

Weil das vor allem die CSU und somit die Union begünstigte, mochten linke Parteien solche Überhangmandate gar nicht. Auch deshalb trugen sie zur jetzt weit verbreiteten Überzeugung bei, allein proportionale Repräsentation wäre demokratisch. Auf Briten oder US-Amerikaner wirkt das rein ideologisch, weil es bei ihnen allein danach geht, welche Kandidaten ihre Wahlkreise gewonnen haben. Dabei ist es für das Erringen eines Mandats völlig egal, welche Stimmenanteile gesamtstaatlich auf ihre Partei entfielen. Theoretisch könnte eine Partei mit landesweit 51 Prozent der Stimmen hundert Prozent der Parlamentsmandate gewinnen, falls nämlich alle Wahlkreisbewerber mit 51 zu 49 Prozent ihre Gegenkandidaten schlagen.

In Deutschland aber gebot das Verfassungsgericht, dass Überhangmandate ab einer gewissen Anzahl durch Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien kompensiert werden müssen. Das führt in einem aufgesplitterten Parteiensystem zur Vergrößerung des Parlaments. Dieses kostet nicht nur mehr, sondern braucht auch einen viel höheren Koordinierungsaufwand. Vor allem gelangen dann viel mehr „Listenabgeordnete“ in den Bundestag, die sich um die Gunst eher von Parteigremien als von den Bürgern kümmern müssen.

Natürlich wäre es vernünftig, ein Parlament mit halbwegs stabiler Größe zu haben. Wie das gehen könnte, wurde seit vielen Jahren erörtert. Doch dabei hatte niemand jene Arroganz der Macht im Sinn, von der getragen das Wahlrecht der Ampelkoalition mit politischer Konkurrenz aufräumen soll. Der Entzug von Direktmandaten, die nicht durch Stimmenanteile für die jeweilige Parteiliste gedeckt sind, sowie die Streichung aller Listenmandate, die einer bloß regional starken Partei dank dem Erringen von drei Direktmandaten zufallen, beseitigt zuverlässig die Linke und höchstwahrscheinlich auch die CSU als bundespolitisch wichtige Partei.

Und weil der FDP ohnehin stets der Untergang droht, verbleiben nur Grüne und SPD, CDU und AfD als bundespolitische Akteure. Solange man ferner ein Zusammengehen von Union und AfD verhindern kann, gibt es dann eine Machtgarantie für Grüne und SPD samt guten Diensten der CDU als Mehrheitsbeschafferin. Selten wurde Machtpolitik gegen Nicht-Linke so brutal betrieben.

Alternative Reformideen

Dabei gäbe es vorzügliche andere Möglichkeiten, Persönlichkeits- und Verhältniswahl mit einer halbwegs konstanten Parlamentsgröße zu verbinden. Erstens ließe sich das bisherige baden-württembergische Landtagswahlrecht für den Bundestag übernehmen. Dann hätte der Wähler nur eine einzige Stimme, mit der er einen Wahlkreiskandidaten wählt. Doch die Gesamtheit der Sitze im Parlament würde auf Landesebene durch Ausgleichsmandate für unterlegene Wahlkreisbewerber so vergeben, dass am Ende ein Bundestag steht, der hinsichtlich der Parteistimmen auf Länderebene proportional ist und vor allem aus direkt gewählten Parlamentariern besteht. Durch Druck der politischen Linken wurde das aber in Baden-Württemberg abgeschafft, um auch Listenabgeordnete zu haben. Mittels von Parteilisten kann man nämlich den Wählern per Quotierung vorschreiben, von welchen Frauen- und Migrantenanteilen sie künftig alternativlos vertreten werden.

Zweitens könnte man ein „Grabenwahlsystem“ einführen. Dann wird idealerweise die eine Hälfte der Parlamentssitze durch Persönlichkeitswahl vergeben, die andere durch Verhältniswahl. Die Sitzzahl des Parlaments bleibt dann stets gleich, weil parteipolitische Proportionalität gerade so, wie in den alten Demokratien Englands und der USA, für das Parlament insgesamt gerade nicht angestrebt wird.

Doch sehr wohl kann man vorsehen, dass jene Stimmen, welche für die jeweils unterlegenen Wahlkreisbewerber abgegeben wurden und im derzeitigen deutschen Wahlrecht regelrecht „verschenkt“ sind, den Stimmen für die Parteiliste des unterlegenen Kandidaten zugeschlagen werden. Damit zählen sie bei der proportionalen Vergabe der Listenmandate. Fairerweise wird man das dann auch mit jenen Stimmen so halten, die über die jeweils für den Sieg im Wahlkreis konkret ausreichende Mehrheit hinaus auf die Kandidaten einer Partei entfielen. Ein solches Grabenwahlsystem mit Verlierer- und Gewinnerausgleich, bei dem keine einzige Stimme ohne politisches Gewicht bleibt, ist ebenfalls ein plausibles Wahlrecht. Es ist auch viel weniger unfair als jenes, das Deutschlands Ampel-Mehrheit soeben beschlossen hat.

Weshalb wurde es nie ernsthaft in Erwägung gezogen? Erstens wegen des Dogmas von der unbeschränkten Proportionalität. Und zweitens, weil gerade so in Ungarn gewählt wird. Hierzulande aber verbietet sich jeder Gedanke daran, irgend etwas Ungarisches könne politisch gut sein. Doch ist diese Haltung vernünftig?