Seit 2010, seit 12 Jahren also, regiert Viktor Orbán Ungarn. Auch von 1998 bis 2002 war er Ministerpräsident. Wer heute 25 Jahre alt ist, kann sich nicht an Zeiten ohne Orbán erinnern. Da kann es einem schon einmal langweilig werden, und Ungarns Jugend, besonders die städtische, kosmopolitische Jugend, sehnt sich nach einem frischen Gesicht an der Macht. Aber nicht nur die Jugend. All jene Ungarn, die gerne klagen, wie schlecht alles ist (und das ist ein Nationalsport), klagen, wie gesagt, wie schlecht alles ist. Unter Orbán.

Nicht dass es davor besser gewesen wäre, dass sagt in Ungarn nun wirklich niemand. Auch jene nicht, die Orbán nicht mehr sehen mögen, wenn sein Konterfei mal wieder über den Bildschirm flimmert. Insbesondere wirtschaftlich ging es dem Land unter der sozialistischen Vorgängerregierung miserabel.

Unzufriedene – das ist etwa die Hälfte der Bevölkerung – stehen allerdings vor einer schweren Frage: Wer sonst soll es machen? Es sind nur zwei neue Gesichter im Angebot, und beide taugen nur begrenzt als Schaufensterschmuck.

Da gibt es den Spitzenkandidaten, Péter Márki-Zay, der ein absurd anmutendes Bündnis aus sechs Oppositionsparteien zum Sieg führen möchte. In diesem Bündnis haben sich zwei Parteien zur dominanten Achse entwickelt, die Exkommunisten („Demokratische Koalition”, DK) und die Ex-Rassisten der rechten Jobbik-Partei. Ja, sagen Letztere, früher gab es bei uns Antisemitismus und Antiziganismus, und wir wollten aus der EU austreten. Aber heute sind wir ganz anders. Heute sind wir die geistigen Erben Konrad Adenauers. – So kann man sich ändern.

Der Parteichef, Péter Jakab, sieht Adenauer freilich nicht sonderlich ähnlich und spricht auch nicht so. Er trägt Jeans und Lederjacke und gibt gerne den derben jungen Mann vom Land, mit einem goldenen Herzen. Freilich, die meisten Ungarn sind Realisten, sie glauben nicht an goldene Herzen. Im vergangenen Herbst hielt die Opposition Vorwahlen ab, um ihren Spitzenkandidaten zu küren. Jakab hoffte, in die Endrunde zu kommen, schmierte aber kläglich ab.

Das andere Gesicht neben Márki-Zay gehört dem Mann, der im Falle eines Wahlsieges tatsächlich regieren würde. Das wäre nämlich nicht Márki-Zay, auch wenn er Ministerpräsident würde. Er hat keine eigene Partei. Im Parlament müsste er von Abgeordneten, die zu anderen Parteien gehören, zum Regierungschef gewählt werden. Diese Parteien werden es sein, die im Falle eines Wahlsieges die Inhalte des Regierens diktieren. Nicht Márki-Zay. Und der starke Mann der stärksten Partei ist DK-Chef und Ex-Premier (2004–2009) Ferenc Gyurcsány. Er kann Márki-Zay nicht ausstehen.

Das liegt daran, dass Márki-Zay im vergangenen Oktober unerwartet die Vorwahlen des Oppositionbündnisses gewann. In diesem Bündnis sind sechs Parteien. Die Vorwahl sollte jemanden von ihnen zum Spitzenkandidaten küren. Stattdessen gewann Quereinsteiger Márki-Zay, der wenig zur Finanzierung und Organisation der Vorwahl beigetragen hatte. Er ist Bürgermeister des Städtchens Hódmezövásárhely.

Am Wahlabend verkündete der frischgebackene Oppositionsführer: Wir haben die Opposition besiegt! Damit meinte er wohl vor allem Gyurcsány. Man darf also davon ausgehen, dass dieser den Neuen in der Arena nicht sonderlich mag.

Die meisten Ungarn wiederum mögen Gyurcsány nicht. Genau deswegen gewann Márki-Zay die Wahl. Sie mögen ihn nicht, weil er 2006 eine interne Rede vor seinen Genossen hielt, in der er erklärte, wie sie die Wahlen gewonnen hatten: „Wir haben von früh bis spät gelogen.“ Da gab es dann Demonstrationen. Gyurcsány ließ Polizisten ohne Identifizierungsmarken aufmarschieren, die mit Knüppeln, Tränengas und Gummigeschossen auf die Demonstranten losgingen. Es war die schlimmste Polizeigewalt seit dem Kommunismus. Von da ab hatte er es sich mit den Wählern verdorben. 2008 wurde Ungarn unter seiner Führung zum ersten EU-Land, das ein IMF-Rettungspaket brauchte.

Gyurcsány ist der reichste Mann im ungarischen Parlament. Seine Frau, die Europaabgeordnete Klára Dobrev, ist aber womöglich reicher. Das Vermögen des Ehepaares stammt aus der Zeit, in der die Liegenschaften der früheren Kommunisten privatisiert wurden. Dobrevs Großvater, Antal Apró, war Moskaus eiserne Faust im Zentralkomitee der ungarischen Kommunisten. Seine Villa (400 qm) gehört heute Klára Dobrev. Gyurcsány hat es also schwer, und auch seine Frau, die für seine Partei Spitzenkandidatin werden wollte, hatte es nicht leicht bei den Wählern. Sie war es, gegen die Márki-Zay in der Vorwahl siegte. Da ging ein Jubelschrei durchs Land, jedenfalls bei vielen, die eine neue Regierung wollen, aber die alte Opposition nicht mögen. Endlich frischer Wind, ein neues Gesicht!

Dieser Jubelschrei ist seither verstummt. Das liegt an Márki-Zay. Die Ungarn kannten ihn nicht wirklich. Seither haben sie ihn kennengelernt. Er fährt durch Land, gibt ein Interview nach dem anderen und setzt sich auch gern vor seinen Computer, um dort bis zu anderthalb Stunden lang zu seinen Anhängern zu sprechen. Da verspricht er sich oft. Zumindest sagt er oft Dinge, von denen er nachher immer sagen muss, dass er sie so nicht gemeint oder nicht gesagt habe.

Etwa, Fidesz-Wähler seien wie Pilze: Sie werden im Dunkeln gehalten und mit Dünger gefüttert. Das ist deswegen etwas peinlich, weil es eigentlich seine Aufgabe wäre, enttäuschte Fidesz-Wähler anzusprechen. Zur Covid-Pandemie bemerkte er, darin seien viele alte Fidesz-Wähler gestorben, das verbessere die Chancen der Opposition.

Das ist deswegen peinlich, weil er als selbstbeschriebener „konservativer Katholik” damit recht pietätlos wirkte.

Apropos Katholik: Er sprach sich für die Schwulenehe aus. In Deutschland mag das zusammenpassen, in Ungarn nicht. Es ist deswegen peinlich, weil er ja christliche Wähler anziehen soll. Apropos „konservativer Katholik”: Er sagte „Jesus war links”. Was ist er nun, konservativ und gegen Jesus? Er sagte, die Opposition vertrete und unterstütze Kommunisten und Faschisten. Wahrscheinlich wollte er das nicht so sagen, meinte es nicht so, aber so kam es aus seinem Mund heraus. Das war mehrfach peinlich, nicht zuletzt deswegen, weil damit wahrscheinlich seine stärksten Verbündeten gemeint waren, Gyurcánys linke DK und Jakabs rechte Jobbik.

Orbán hat die Strom- und Gasrechnungen der Bürger per Dekret gedeckelt, seit 2013. Das brachte ihm den Wahlsieg im Jahr 2014. Seither zahlen die Bürger für Energie weniger als sonstwo in Europa. Márki-Zay sagte dazu, sie sollten die Rechnungen lieber dadurch reduzieren, dass sie weniger duschen. Das alles ist so unvergnüglich, dass Márki-Zay inzwischen meist nur noch in Begleitung eines Sprechers auftritt und deutlich kürzere Ansprachen hält. Der Enthusiasmus der Oppositionsanhänger, im Oktober noch beträchtlich, ist Unlust gewichen. Erste Altsozialisten fordern öffentlich, Márki-Zay als Spitzenkandidat abzulösen, etwa der frühere Finanzminister (1994–1995) László Békesi.

Die routinierte und knallharte politische Kommunikation der Regierungspartei Fidesz schlachtet all das natürlich genüsslich aus. Im Wahlkampf hat sie umgestellt von harschen eigenen Slogans zu den Sprüchen Márki-Zays, natürlich oft ein wenig verzerrt. Man muss sie nur dauernd wiederholen, damit auch jeder Wähler davon weiß.

Die Frage, vor der die Bürger stehen, hat sich mithin geändert. Sie lautet nun: Hassen wir Orbán so sehr, dass wir ihn trotz Márki-Zay und Gyurcsány abwählen wollen, komme was wolle?

In den Umfragen führte die Opposition monatelang. Inzwischen liegt Fidesz wieder vorn, mit 49 zu 46 Prozent, laut Meinungsforschungsinstitut Zavecz (Anfang Februar). Knapp dürfte es trotzdem werden, weil die Opposition erstmals zusammen auftritt.

Aber so richtig vereint und harmonisch wirkt sie denn doch nicht.