Die ablehnende Haltung von Frau Lau gegenüber der Politik der ungarischen Regierung ist durchgängig eindeutig erkennbar. Sie bedient sich dabei sehr oft aus dem Reservoir einfacher unterschwelliger Botschaften (z.B. beigefügtes Bild des Textes oder „Hexenberg“). Sie belässt es aber nicht bei den aus den deutschen Medien sehr bekannten einfachen Orbán-Anklagen – autoritäre Machtsicherung, Korruption, Anti-Europäer, Soros-Feindbild - sondern weist auch auf die beachtliche Anziehungskraft eines in der Praxis umgesetzten konservativen Politikmodells in Europa hin. Das unterschiedliche Geschichtsbewusstsein in Ungarn und das Orbán „wie ein Vater klingt“ reichen ihr zur Erklärung der breiten aktuellen Unterstützung der ungarischen Politik anscheinend aus. Die wirtschaftlichen Erfolge oder die attraktive Familienpolitik während der Regierungszeit von Orbán sind ihr keine Zeile wert. Kein Wort zur schlecht aufgestellten Opposition im Lande, aber dafür sieht sie in die Körpersprache einiger MCC-Studenten den Beweis für die These, dass es „überall in Europa größte Zweifel“ an der Legitimität der Regierung von Orbán gebe.
Auch die Tatsache, dass sie damit u.U. ein Großteil der ungarischen Wähler und Demokraten beleidigen könnte, die immerhin in vier nationalen Wahlgängen Fidesz/KPND mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ausstatteten, scheint sie wohl als medialen Kollateralschaden in Kauf nehmen zu müssen.
Mit der Einordnung des Sachverhalts, dass talentierte und der Moderne aufgeschlossene junge Leute sich für Orbáns Politik interessieren, hat sie offensichtlich Schwierigkeiten. Dass junge Menschen sich offen und mit Überzeugung als konservativ und patriotisch verstehen, ist für eine deutsche Journalistin sicherlich ja auch nicht so einfach nachzuvollziehen. In diesem Sinne scheint sie darüber überrascht zu sein, dass man „die MCC-Studenten auch direkt nach Viktor Orbán fragen“ könne und dass das Geschichtsbewusstsein bei den ungarischen Studenten in Ungarn sehr „präsent“ sei.
In dem Artikel klingt auch unterschwellig ihre Einschätzung an, dass es sich bei dem Phänomen Orbán vielleicht doch um eine generelle und ernsthafte Herausforderung für das etablierte Politikverständnis insbesondere in Westeuropa handeln könnte. Das sich der Artikel an der Förderung des Bildungssektors durch die ungarische Regierung ansetzt, ist wohl ein weiteres Indiz dafür, dass es aus der Sicht von Frau Lau der ungarischen Regierung wohl nicht nur um die kurzfristige Machtsicherung geht, sondern es sich darüber hinaus um einen generationenüberspannenden Politikansatz handelt, letztlich um die Zukunft christlich-demokratisch und konservativer Politik. Es geht ihr nicht mehr nur um die Person Orbán, sondern um eine mögliche entstehende internationale politische Bewegung. Vor diesem Hintergrund ist die Überschrift „Orbanologie“ wohl zu verstehen. Ein Sammelbecken konservativer Denkmuster und politischer Umsetzung mit langem Zeithorizont scheint ihrer Meinung nach wohl das Besondere an dieser ungarischen politischen Entwicklung. Dass die Regierung bereit ist, dafür viel Geld in die Hand zu nehmen und langfristig in Bildung zu investieren, unterstreicht deren Ernsthaftigkeit - und demnächst, so ihre Aussage, wolle MCC die Eliteförderung ja schon bei den 10jährigen beginnen.
Der Versuch christlich-demokratische und konservative Repräsentanten in Deutschland, insbesondere die CDU und ihren Vorsitzenden, in die Nähe von Orbán zu rücken und damit nach allgemeiner deutscher Leseart zu diskreditieren, ist eher misslungen. Der Hinweis auf die Zusammenarbeit von MCC mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und den renommierten Professoren Rödder und Patzelt wird im bürgerlichen Lager wohl eher als positiv eingeschätzt, denn der Auftrag an verantwortliche pluralistisch-orientierte Politik ist es doch gerade in schwierigen Zeiten, den politischen Dialog pragmatisch und sachorientiert aufrechtzuerhalten. Der Hinweis der Journalistin, dass sich MCC von der AfD „fernhalte“ ist gerade in diesem Kontext richtig und wichtig.
Der Artikel ist flott geschrieben. Er wird aber keinem wissenschaftlichen Anspruch gerecht, was sicherlich auch nicht beabsichtigt war. Die oberflächliche und einseitige Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens in Ungarn macht den Text zwar für viele Interessierte gut lesbar, dies geht aber zu Lasten der notwendigen Tiefenschärfe, Ausgewogen- und Genauigkeit. Entsprechend gibt es im Text auch sachliche Fehler, Zweideutigkeiten und die Wiederholung von bekannten hartnäckigen Vorurteilen und Fehleinschätzungen.
Die Wirkung des Artikels auf den Leser hängt sehr von dessen politischer Grundeinstellung ab, denn es finden sich entlang der eigenen Interpretationslinien sowohl positive als auch negative Aspekte hinsichtlich des deutschen Ungarnbildes.
Zu begrüßen ist, dass Frau Lau für ihren Artikel nach Ungarn gereist ist. Auch wenn die Aussagekraft des Textes in vielen Punkten hinterfragt werden kann, wäre die Ausweitung des Dialogangebots von MCC an deutsche Journalisten sicherlich sehr sinnvoll. Gerade dieser Artikel hat wieder gezeigt, wie wichtig der persönliche Gedankenaustausch zum Abbau von Missverständnissen und Informationsdefiziten ist.
Das Deutsch-Ungarische Institut für europäische Zusammenarbeit sollte dafür weiter Plattformen für den partnerschaftlichen Gedankenaustausch und kontroverse Debatten anbieten. Der Abbau der Polarisierung und die Förderung des Dialogs ist gerade im Hinblick auf eine Verbesserung des deutsch-ungarischen Verhältnis aller Mühen und gelegentlichem Kopfschütteln wert.